Ostwärts!

Die Nacht haben wir in Vergi verbracht. Ein idyllischer Hafen, der sich lohnt, angefahren zu werden. Er liegt im Osten des Nationalparks Lahemaa. Hier soll es Bären geben. Ich schau gleich mal nach, ob sich einer als blinder Passagier an Bord versteckt hat. Was mache ich, wenn einer da ist?!

Die Ansteuerung war etwas verwirrend. Die Richtmarken waren leicht auszumachen, breit und hoch wie sie sind. Was uns bei der Anfahrt irritiert hat, war, dass vom weithin sichtbaren Leuchtturm kein Licht zu sehen war. Sollte er doch mit Sektorenfeuern leiten. Wir steuerten gegen 22 Uhr auf Vergi zu. Es war zwar zu dieser Zeit noch hell, jedoch leicht dämmerig. Eine rote Fahrwassertonne war trotzdem bald zu sehen, wenig später eine grüne. Mehrere davon leiteten durch den flachen Hafen. Auf der berichtigten Seekarte waren diese nicht eingezeichnet. So war die Einfahrt zum Schluss aber doch einfach. Im Hafen selbst gibt es ein paar Liegeplätze, es war nicht viel los – ein Ankerer, zwei Segelboote, alles Finnen, ein paar kleinere Motorboote, vermutlich Esten.
Pünktlich um 9 Uhr haben wir abgelegt. (Wir werden immer besser). Am Morgen hat es wie angekündigt geregnet, nun scheint die Sonne wieder. Der Wind, der keiner ist mit 0 – 1 Bft, zwingt uns, zu motoren. Walter meinte, früher hätte ein Segelboot ohne Motor drei Tage für die 70 sm nach Narva gebraucht. Also, soviel Gemütlichkeit ist selbst uns zu viel. Mal schauen, was der Tag noch bringt.
Über uns kreisen riesige Schwärme von Vögeln im weiten Bogen über das Meer, meistens formiert in einer langen Reihe, mal etwas ungeordneter, scheinbar. Das ist ein wunderschönes Naturschauspiel.
Wir entschlossen uns, bis Narva zu segeln. Unterwegs wäre zwar noch ein Hafen gekommen – Sillamäe. Da dort aber nur Tanker ein – und ausfuhren, fuhren wir weiter. Bei einer Strecke von knapp 70 sm und Wind meist um 2 Bft konnten wir nicht segeln. So taten wir das, wovor wir dieses Jahr bisher meist verschont blieben, wir fuhren unter Motor. Damit beträgt unsere Reisegeschwindigkeit knapp 6 kn. Am späten Nachmittag frischte der Wind auf, bis auf vier Bft, in Böen fünf. Walter zog zusätzlich die Genua hoch, das brachte einen Knoten Geschwindigkeit mehr.
Längere Zeit beobachteten wir Regenschauer an Land. Immer wieder blitzte es, der Donner hallte dumpf weit übers Meer. Öfters schaute ich, woher der Wind weht. Bringt er das Gewitter zu uns? Am frühen Abend war es soweit, die dunklen Wolken zogen rasch in unsere Richtung. Bald goss es in Ströhmen. Zum Glück hatte sich das Gewitter schon ausgetobt. Die Sicht war schlecht. Wir näherten uns der Einfahrt in die Narva, dem Fluss, der uns zur Stadt Narva bringen sollte. Der Fluss ist Grenzgebiet zwischen Russland und Estland. Dringend wird geraten, auf der estnischen Seite zu bleiben. Die russische Grenzkontrolle würde streng darauf achten, dass niemand `illegal` die Grenze überschreitet. Durch die schlechte Sicht hatten wir das Problem, überhaupt erst mal die Mündung zu finden. Langsam tasteten wir uns heran. Die Seezeichen sind bei dieser Witterung spät auszumachen. Doch auch das gelang. Nahe der Einfahrt zur Narva gibt es einen Hafen in Narva – Jöesuu. Narva schien uns als Grenzstadt mit der Hermannsfeste und der auf russischer Seite gegenüber liegenden Burganlage Iwangorod viel interessanter. Dafür nahmen wir die 10 sm lange Flussfahrt gern in Kauf. Geschockt waren wir, als wir Narva – Jöesuu passierten. Anscheinend wurde vor 2006 mit EU – Fördermitteln ein neuer Anleger mit Yachtsteg errichtet. Nichts deutete auf eine Anlegestelle hin. Vor großen alten Fabrikhallen, die aussahen als ob es dort gebrannt hätte, war sowas wie ein zerfallener Steg zu sehen, da legt aber mit Sicherheit niemand mehr an.
Auf der Narva schwammen lustige orangene Bälle. Den ersten umfuhren wir backbordseitig. Nach und nach kamen wir zu der Gewissheit – das ist die Grenze.

Auf der Narva liegen immer wieder Inseln. Die Frage ist, umrunden wir sie rechts- oder linksrum? Die Erste erschien mir linksrum vertrauenerweckender, auch wenn uns das näher an die russische Grenze führte. Was nützt es, wenn wir im Schlamm steckenbleiben? Die Wassertiefe erreichte schnell die 2 Meter Tiefe und schon hatten wir Grundberührung! Rückwärtsgang rein, zum Glück konnte Walter uns wieder heraus fahren. Andere Seite versuchen. „Jetzt kommt uns auch noch ein Boot entgegen,“ stöhnte Walter. Das Boot war die estnische Grenzkontrolle. Sie kamen längsseits. „Are you from Germany?“ Der junge Mann deutete auf unsere Fahne. „Yes, we are.“ Er erklärte freundlich, dass wir einklarieren müssten und umdrehen sollten, zurück nach Narva – Jöesuu. Ich glaubte, mich verhört zu haben. Es regnete immer noch stark. Ich stand in einer Wasserpfütze. Dummerweise habe ich die Regenstiefel nicht angezogen, als es zu regnen begann. Meine Schuhe waren völlig durchnässt, meine Füße kalt. Wir waren bald zwölf Stunden unterwegs, wir waren müde. Außerdem waren wir schon mehrere Wochen in Estland unterwegs. Wir sagten, wir kämen jetzt von Vergi und davor von Tallinn. Nach Rücksprache mit seinem Kollegen meinte er, wir sollen vorbeikommen, wenn wir ausfahren. Es lebe die Un-Bürokratie! Wir fragten nach der Wassertiefe auf der Narva. Nach kurzem Hin – und Her meinte der nette Mann, wir sollten hinter ihnen herfahren.
Das taten wir sehr gern. Sie lotsten uns um die Insel herum, bis das Fahrwasser wieder tief war. Nachdem sie gewendet hatten, kamen sie erneut längsseits und ermahnten uns mit ernstem Blick, immer rechts von den orangenen Bällen zu bleiben, auf der anderen Seite wäre Russland. Das ist Gastfreundschaft. Wir kommen gern wieder nach Estland. Gegen 21 Uhr legten wir an einem kleinen Steg an. Seit heute morgen haben wir Strom, leider gibt es keine Duschen.
Heute scheint die Sonne wieder, für eine Stadtbesichtigung ist es fast zu heiß.
Narva hat eine ganz besondere Ausstrahlung. Wir liegen an einer kleinen Anlegestelle und schauen hinüber nach Russland. Uns gegenüber liegt der russische Grenzschutz. Manchmal hören wir die Männer auf der anderen Seite reden. Weiter der Stadt zu baden russische Kinder im Fluss, sie haben großen Spaß daran. Wir hören sie lachen und kreischen, wie in jedem Bad. Die Hermannsfeste, noch mehr die Burganlage Iwangorod, machen einen imponierenden Eindruck wie sie sich seit Jahrhunderten nur von einem Fluss getrennt gegenüber liegen. Die Menschen in diesem Land haben über Jahrhunderte schon viel mitgemacht.
Eine Brücke, mit Namen Freundschaft, verbindet Narva und Iwangorod. Ein nicht enden wollender Fluss von Fußgängern, Autos, Reisebusse und Lastwagen zieht von hüben nach drüben und von drüben nach hüben. Alle, die die Seiten wechseln wollen, nehmen die langen Wartezeiten wohl gern in Kauf.

Wir wechseln morgen auch die Seiten. Morgen geht es nach St. Petersburg.

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