Info zu Kaliningrad

Wir haben Kontakt zu Thoralf Plath bekommen.
Er hat schon viele Reiseführer Osteuropa geschrieben und lebt in der Nähe von Kaliningrad.

Hier seine Email zur aktuellen Situation in Kaliningrad:

Hallo Walter,
und Dir/Euch danke für die schnelle Antwort!

Ja, das mit den knappen Liegeplätzen stimmt leider, aber immerhin wird dran gearbeitet. Die Gebietsregierung hat in diesem Jahr ein Programm zum Ausbau der wassersportlichen Infrastruktur aufgelegt, der neue Gouverneur ist diesbezüglich nicht der schlechteste. Sein Vorgänger (Georgij Boos) neigte als typischer Moskauer zu Mega-Großprojekten, die von Beginn an unrealistisch erschienen und samt und sonders längst Geschichte sind. Zum Glück auch, wenn ich an 20 Luxushotels auf der Kurischen Nehrung und die Casino-Stadt (Googel mal Las Vegas an der Ostsee) denke…
Die jetzige Regierung hat vor kurzem Pläne vorgestellt, zunächst 3 Segelmarinas zu bauen. Im nächsten Jahr soll es mit dem ersten Projekt losgehen: Anstelle des Yachthafens unseres Kaliningrader YC soll ein großes Segelsportzentrum mit Yachthafen, Segelmacherei, Segelschule, Gastronomie usw. entstehen. Inklus. ausgetonntem (und gebaggertem) Fahrwasser vom Seekanal aus.
Unsere hiesigen Segler sind nicht so begeistert, da sie das als Verdrängung von ihrem Areal empfinden, man kann das verstehen bei den Auswüchsen, die hier in dieser Gründerzeit gerade auf dem Immobiliensektor laufen. Aber es ist ein Anfang. Eine weitere Marina soll in Rybatschij/Rossitten auf der Haffseite der Kur. Nehrung gebaut werden, da die Seegrenze des Haffs ja nun auch für den internationalen Bootsverkehr offen ist – und eine dritte (Marina) im Fischereihafen von Pionersk. Nicht so groß wie die Luxusanlage von Gouverneur Boos (mit seinerzeit geplanten 600 !! Liegeplätzen), aber da Pio der einzige Hafen an der Kaliningrader Außenküste ist, sind die Marina-Pläne hier sicher vernünftig. Den Planungen nach soll dann auch das Ein-/Ausklarieren wieder in Pio möglich sein. Wie es zurzeit läuft, also nur in Baltijsk, ist das natürlich kein Zustand.
Der Ausbau eines Segler-/Sportboothafens in Baltijsk wäre überfällig, aber da sperren sich die Militärs – wie sie überhaupt gegen jede zivile Entwicklung des Ortes sind. Es gibt fertige Planungen für Baltijsk, ich hab einige hier in meinem Archiv, komplett vermessene Planungen für einen maritim-touristischen Ausbau der Innenstadt mit Yachthafen, Hotels usw. Hat u.a. die Fachhochschule Aachen dran mitgearbeitet. Auch für den alten Flugboothafen aus Wehrmachtszeiten drüben auf der anderen Seite von Baltijsk, also schon auf der Frischen Nehrung (die verwaltungstechnisch quasi ein Stadtteil von Baltijsk ist), gab es schon Interessenten – u.a. wollte eine schwedische Investorengruppe das wind- und wellengeschützte Becken (auf der Karte und auf Google Earth gut zu sehen) in eine Yachtmarina ausbauen.
Leider, bisher, noch alles Papier. Denn gegen den Willen der Baltijskij Flot geht in Pillau gar nix. Die Reaktionen der Marine haben übrigens nur zum Teil mit militärischen Denkmustern zu tun. Dass die Flotte ihren Hafen und die Marinestadt Baltijsk so verteidigt, hat auch pragmatische Gründe, es geht schlichtwegs um Jobs. Es war bereits geplant, den Flottenstab in Kronstadt bei StP zusammenzuziehen und Baltijsk zur Flottille abzustufen – das will die Kaliningrader Admiralität natürlich verhindern.
Manchen hiesigen Generälen steckt die wohl beispiellose Abrüstung des Militärgebietes Kaliningrad noch in den Knochen. Was des einen Freud, war des anderen Leid… Ich könnte hier lange Geschichten schreiben von ehemaligen Offizieren, die durch dieses Abrüstungsprogramm in die Kriminalität abrutschten und mit ihren Kameraden in den wilden 90er Jahren ebenjenes kriminelle „Netzwerk“ aufbauten, das man als russ. Mafia bezeichnet. Dieses Chaos der Jelzin-Zeit hatte sehr dunkle Seiten.
(Ich hätte meine journalistischen Schnüffeleien in diese Richtung einmal fast mit dem Leben bezahlt…)
Aber zurück zur Segelei. Das Bewusstsein für diese Art von Infrastruktur musste hier erst mal wachsen, und dafür braucht es eine gewisse Stabilität in der Gesellschaft. Einen gewissen Grundwohlstand wohl auch, denn natürlich richten sich auch hier touristische Investitionen nicht allein an ausländische Gäste, sondern vor allem an die eigenen Landsleute. Etwa seit 2005 (man kann die 750-Jahrfeier Kaliningrads wirklich eine Initialzündung für viele Entwicklungen nennen) gehts nun auch in dieser Richtung aufwärts, aber gemessen am gewaltigen Nachholebedarf eben arg langsam und ziemlich unkontinuierlich, leider. Das Pragmatisch-Planerische, man könnte sagen „preußische“ ;) ist den Russen eben fremd. Alles läuft sprunghafter hier. Die Probleme der Exklave sind ja auch wirklich groß, allein aus der geopolitischen Lage als russische Region in der EU ergeben sich viele spezifische Problemlagen – da spielt der Wassertourismus nicht unbedingt die allererste Geige. Und wenn dann Programme aufgelegt werden, etwa zur Öffnung der Haffs für den internationalen Bootstourismus, dann ist das hier sofort eine außenpoölitische Frage – die zwischen Moskau und Brüssel entscheiden wird… Zwischendrin schlug dann noch die globale Wirtschaftskrise zu, die die Exklave Kaliningrad und ihr kleines, gerade gestartetes Wirtschaftswunder ziemlich zerrupfte. Wir erholen uns gerade davon. Darum erscheint mir manches Urteil meiner deutschen Landsleute hier etwas schnell gefällt, hart ausfallend und einseitig, ungerecht.
Kaliningrad ist dabei, sich zu verändern, zum Besseren, zum Moderneren.
Und Vorbild ist hier für fast alles „Jewropa“. Ãœberall in der Stadt wird gebaut, nicht unbedingt schön, also ich mag all diese modernen Hochhäuser nicht unbedingt, aber so what. Die Nominierung Kaliningrads als eine der Ausrichterstädte der Fußball-WM 2018 in Russland wird den Modernisierungsboom noch einmal beflügeln. Aber das alles dauert natürlich eine Weile. Man darf ja nicht vergessen, wo die Stadt herkommt, aus welcher isolierten Lage. Bis 1991 Militärsperrgebiet. Das alles ist erst 20 Jahre her. Ich bin seit 1995 hier, damals konnte man wirklich das Grausen kriegen beim Anblick von soviel Beton. Ich war als Ostdeutscher graue Städte gewöhnt (auch wenn meine Heimatinsel Rügen eher grün/blau war, auch vor der Wende schon… ;)), aber mein erstes Kaliningrad-Erlebnis damals hatte schon viel Depriminierendes…
Eine schöne Stadt im Postkartensinn, so wie Riga oder Tallinn, wird aus Kaliningrad nicht wieder werden, das ist klar. Da kann man sie hundertmal in Königsberg rückbenennen (was eines Tages passieren wird, kein Zweifel), das alte Königsberg ist zerstört. Aber gerade in dieser Mischung aus deutschem Einst und sowjetisch/russischem Heute steckt doch so viel spannendes, interessantes, kontrastreiches, dass ich einen Kaliningrad-Törn nun wirklich jedem Ostsee-Umrunder empfehlen möchte.
Silja und Jan, die mit ihrem Schweinswal-Boot im Sommer einmal rund segelten, haben es jedenfalls auch nicht bereut. (Ein tierischer Segelsommer – Ihr kennt das Projekt?)

Sicher sind russische Grenzkontrollen nicht unbedingt immer angenehmn, die Beamten könnten manchmal ein bisschen freundlicher sein – oder einfach mal lächeln. Doch dazu muss man wissen, dass ein strenges Äußeres in Russland zur Staatstradition gehört. Diese offene zivilgesellschaftliche Freundlichkeit, wie man sie etwa aus Skandinavien kennt, ist dem russischen Staatswesen fremd. Im offiziellen Umgang zwischen „Stat“ und „Bürger“ ist alles sehr steif, streng, unpersönlich in Russland.
Es ist also gar nicht persönlich gemeint, wenn ein russischer Zöllner ein Lächeln nicht erwidert. Privat ist der gleiche Mann ganz anders – wir haben Freunde, die in solchen Positionen arebeiten, und wir amüsieren uns öfter über diese dienstliche Strenge, wenn wir uns mal am Grenzübergang treffen. Das empfehle ich auch immer allen Seglern oder überhaupt Gästen, die aus dem Westen zu uns kommen: Nehmts gelassen und nicht gleich persönlich.
Ich hab ja nun schon eine ganze Menge Eincheck-Kontrollen auch von Segelbooten miterlebt, da meine Frau und ich manchmal als Dolmetscher helfen, aber mit gezogener Kalaschnikow wurde noch kein Boot empfangen, und drei Stunden durchsucht auch noch keins. Mag sein, dass sowas vorgekommen ist, aber es waren Ausnahmen, dessen bin ich sicher. Nicht jeder russische Grenzbeamte/Zöllner mag die selbstbewusst auftretenden Touristen aus dem Westen. Leider. Das Dienstleistungsbewusstsein russischer Staatsbehörden ist noch nicht besonders ausgeprägt. Die Zettel-Bürokratie blüht dafür. Aber na ja, vor sowas muss ein erwachsener Mensch doch wohl eigentlich keine Angst haben, gell?
Und apropos Kalaschnikow: In den 90er Jahren hatten sogar Verkehrspolizisten bei ganz normalen Autokontrollen unterwegs an der Straße eine Maschinenpistole über der Schulter. Zum Teil sieht man heute noch – je nachdem, ob sie jemanden suchen zB. Die Kalaschnikow war und ist dann Vorschrift – vor allem aus Selbstschutz. Das richtete sich nicht gegen die Kontrollierten – aber natürlich lässt sich so ein Anblick prima zur Russland-Reise-Horrorgeschichte ausbauen…
Soweit in aller Kürze ein paar Russland-Gedanken aus Königsberg.

Ich überarbeite übrigens gerade das Kaliningrad-Kapitel für Joern Heinrichs „Küstenhandbuch Polen-Baltikum“, wenn Euch da also noch Tipps/Hinweise einfallen, immer her damit.

In diesem Sinne,

Beste Grüße aus Kaliningrad bzw. Selenogradsk (Cranz), wo es endlich mal aufgehört hat zu regnen…

… übrigens: Sollten Euch ab und zu Nachrichten aus Kaliningrad
interessieren: Ich schreibe regelmäßig was auf www.kaliningrad.aktuell.ru
Auf dem gerade wachsenden Portal www.kaliningrad-atlas.de (noch Baustelle, in ca. 2-3 Monaten fertig) plane ich auch eine Rubrik „Segeln nach Kaliningrad“. Ohne Horror, ganz sachlich… ;)

Thoralf

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